Das Liber L verstehen…

Wissen | Dariusz Sandowski@pixabay.com

Vor ein paar Tagen war es mal wieder so weit. Ich saß im Cafe, hatte das Liber L auf dem Tisch liegen und wurde angesprochen, ob ich Thelemit sei. Ich bejahte die Frage und erntete einen abschätzigen Blick meines Gegenüber. Begleitet wurde der Blick von einer sehr kurzen Kaskade von Zitaten aus dem Liber L. Sie bewiesen, wie er sagte, den sozialdarwinistischen Charakter des Liber L und damit seine Schändlichkeit.

Erinnert hat mich dieses Zusammentreffen dann dazu, dass es mal wieder Zeit wird für mich, kurz innezuhalten und mir klar zu machen, was es braucht um das Liber L (und auch andere Texte) verstehen zu können. Ja, und auch das es ein paar verbreitete Fallstricke beim Interpretieren des Liber L`s gibt, auf die ich hier eingehen werde.

Hermeneutik

Das Wort Hermeneutik haben bestimmt die meisten schon einmal gehört. Es kommt von dem griechischen Hermeneutike und bedeutet Auslegekunst. Heute wird es gebraucht für die Kunst und zugleich die Voraussetzungen des Verstehens. Etwas vereinfacht könnte man so sagen: „Wenn Du versuchst, einen Text wie das Liber L zu verstehen und nicht nur dich selbst zu lesen, betreibst Du Hermeneutik.“

Das Unterfangen einen Text zu verstehen wäre ganz einfach, wenn Wörter festgelegte Bedeutungen hätten, die sich nicht verändern. Dann könntest Du einfach jeden Text Wort für Wort mechanisch abarbeiten und wüsstest danach, worum es geht, was daraus folgt usw. Vorausgesetzt natürlich, die Wörter und die grammatikalischen Regeln sind dir bekannt. Da keine natürliche Sprache so funktioniert, sondern Worte je nach Kontext ihre Bedeutung verändern, solltest Du ein paar kleine Punkte beachten:

  • Jede deiner Lebenserfahrungen verändert die Bedeutung eines Wortes.
    Beispiel: Was das Wort Liebe für dich heute bedeutet, ist etwas anderes als zu der Zeit deiner Pubertät.
  • Deine sprachliche Gewandtheit hat Einfluss auf die Bedeutung eines Wortes für dich.
    Beispiel: In wie vielen Kontexten kennst Du das Wort Liebe? Wie differenziert kannst du Liebe beschreiben, besingen oder bedichten?
  • Dein soziales und damit dein sprachliches Umfeld beeinflusst die Bedeutung eines Wortes für dich.
    Beispiel: Liebe bedeutet in einem erzkatholischen Umfeld etwas anderes als in einer Hippiekommune.
  • Last not least verändert sich die Bedeutung eines Wortes auch im Laufe der Geschichte.
    Beispiel: Bei Backfisch denkt heute jeder an Essen und nicht mehr an ein 16 Jahre altes Mädchen.

Du merkst jetzt also: Einfach mal das Liber L lesen und schwupps verstanden funktioniert nicht. Das Liber L verstehen bedeutet, es zu interpretieren und die oben erwähnten „Brillen“ durch die wir schauen zu berücksichtigen.

Nach dem wir soweit sind, kommen wir zu einem zentralen Moment des Verstehens.

Der hermeneutische Zirkel

„Werd’ ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! Du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, dann will ich gern zugrunde gehn!“. Faust zu Mephisto

Der hermeneutische Zirkel bedeutet kurz gesagt: Willst Du einen Text verstehen, musst Du jedes Wort dieses Textes verstehen. Und um ein Wort des Textes zu verstehen musst Du den ganzen Text verstehen.

Wird dir schwindelig in dem hermeneutischen Karussell? Dann hilft es dir vielleicht zu wissen: Du kannst dem hermeneutischen Zirkel nicht entkommen, niemand kann das. Aber Du kannst ihn zu einer Spirale umgestalten.

Und das ist gar nicht so schwer. Erlaube dir „einfach“, dass jedes Eintauchen in einen Text dein bisheriges Verständnis dieses Textes verändert. Und mit dieser frischen Sicht kannst Du dich dem Text dann erneut nähern und Weiteres entdecken.

Hermeneutischer Zirkel | Grafik by Dieter

Beschäftigst Du dich auf diese Weise mit dem Liber L, wird dir schnell klar werden, dass Verstehen ein Horizont ist. Du kannst ihn verschieben und immer Weiteres entdecken, aber Du kommst nie an eine endgültige Einsicht. Der Horizont wandert mit. Oder anders gesagt: Suchst Du in diesem Prozess des Verstehens nach Wahrheit, wirst Du enttäuscht werden.

Gibt es wahre und falsche Liber L Interpretation?

Aus dem Bisherigen sollte dir klar geworden sein, dass es keine wahre Liber L Interpretation gibt. Es gibt zwar Interpretationen, die auf einen breiten Konsens beruhen, doch das besagt nicht, dass eine solche Interpretation wahr ist, sondern nur, dass ihr viele zustimmen.

Was es gibt, sind mehr oder weniger stimmige Interpretationen, nämlich solche, die den hermeneutischen Zirkel beachten. Das bedeutet, eine stimmige Interpretation des Liber L berücksichtigt alle Verse und sieht sich selbst als nicht und prinzipiell niemals abgeschlossen.

Ja, und dann gibt es noch fehlerhafte Interpretationen des Liber L. Im folgenden eine kurze Liste von typischen Fehlern mit ein paar Beispielen dazu:

  •  Ein Vers wird aus dem Kontext gerissen und unkritisch mit den gewohnten Bedeutungen belegt um die eigene Weltsicht zu untermauern.

Beispiel: „Auch Vernunft ist eine Lüge……“ Liber L II , 32

Dieser Vers hat schon so manchen als Rechtfertigung gedient, den Kopf auszuschalten und einfach seinen Emotionen zu folgen. Der Kontext, z.B. wer da gerade (Hadit) spricht und aus welcher Perspektive Hadit über Vernunft spricht, wird geflissentlich übersehen.

  •  Eine kleine Gruppe von Versen wird zusammen gedeutet ohne Berücksichtigung des Rests der Verse.

Beispiel: Aus „…stampft die Heiden nieder…“ Liber L III, 10 „Daher schlage hart und tief und zur Hölle mit ihnen herrsche“ Liber L II, 60 und ähnlichen Versen wird der sozialdarwinistische Charakter des Liber L gefolgert. Aber wie sollte das passen zu: „Liebe ist das Gesetz, Liebe unter Willen“? Nicht ein Gesetz, sondern DAS Gesetz!

  •  Ein Kapitel wird einem anderen vorgezogen.

Beispiel: Meist findet Nuit einen breiteren Anklang als Hadit. bei Ra-Hoor-Khuit tun sich dann schon viele schwer.
Dabei wird vergessen, dass die drei Götter in jedem Moment zusammen wirken. Sie erzeugen einander und setzen einander voraus. Beides. Mit einem anderen Vokabular kannst Du dasselbe auch so sagen: Diese drei Götter sind gleichwertig und gleich ursprünglich.

  •  Der geschichtliche Kontext des Liber L´s wird ignoriert.

Beispiel: Das Liber L ist gespickt mit Anspielungen auf die Religionen des Osiris Zeitalters und auch auf das alte Ägypten. Ohne Kenntnisse über diese Religionen und Kulturen ist es natürlich unmöglich, die Anspielungen im Liber L als Anspielungen zu erkennen.

  •  Das eigene Vorverständnis und die eigenen Vorurteile werden ignoriert. Das hatten wir oben schon ausführlicher.

Diese Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und soll dir nur einen kurzen Überblick über die Fallstricke geben, die dir begegnen, wenn Du dich mit dem Liber L beschäftigst.

All dies hätte ich gerne meinem Gesprächspartner erzählt, der mich zu diesem Text inspiriert hat. Nur hatte er kein Ohr für meinen Mund und gestand mir statt dessen, das Liber L nicht selbst gelesen zu haben….

5 Antworten auf „Das Liber L verstehen…“

  1. – Die festgelegte Wort-Bedeutung IST festgelegt durch die Definition !
    – DU meinst Interpretation !!
    – Reine Erfahrungssache, dass mit der Kunst der Reflexion !!!

    Der Kontext kann die Bedeutung / Auslegung eines Wortes begründen.
    Wörter können auch mehrfach Definiert werden. Siehe „DUDEN Das Deutsche Wörterbuch“ – Knaur Verlag

    P.S.: Sehr gut verständlich geschrieben. Weiter so …

  2. Liber AL mag ja offen sein für Interpretationen, aber Crowleys eigener Kommentar zu dem Buch spricht Bände. Z.B. hier:

    „AL III,18: Mercy let be off: damn them who pity! Kill and torture; spare not; be upon them!

    The New Comment
    What has been the net result of our fine ‚Christian‘ phrases? In the good old days there was some sort of natural selection; brains and stamina were necessary to survival. The race, as such consequently improved. But we thought we knew oh! so much better, and we had „Christ’s law“ and other slush. So the unfit crowded and contaminated the fit, until Earth herself grew nauseated with the mess. We had not only a war which killed some eight million men, in the flower of their age, picked men at that, in four years, but a pestilence which killed six million in six months.
    Are we going to repeat the insanity? Should we not rather breed humanity for quality by killing off any tainted stock, as we do with other cattle? And exterminating the vermin which infect it, especially Jews and Protestant Christians?“

    Oder hier:

    „AL III,20: Why? Because of the fall of Because, that he is not there again.

    The New Comment
    […] Our ancestors survived because they were able to adapt themselves to their environment; their rivals failed to breed, and so „good“ qualities are transmitted, while ‚bad‘ are sterile. Thus the race-thought, subconscious, tells a man that he must have a son, cost what it may. Rome was founded on the rape of the Sabine women. Would a reasoner have advocated that rape? Was it ‚justice‘ or ‚mercy‘ or ‚morality‘ or ‚Christianity‘?
    […] Do what thou wilt shall be the whole of the Law, biologically as well as in every other way.
    Let us take an example. I am an antivaccinationist in a sense which every other antivaccinationist would repudiate. I admit that vaccination protects from smallpox. But I should like everybody to have smallpox. The weak would die; the strong might have pitted faces; but the race would become immune to the disease in a few generations.“

    Also wenn das kein Sozialdarwinismus ist, dann weiss ich auch nicht…

    1. Juden und Christen beziehen sich auf eine Religion und das wird kritisiert. Ebenso war Crowley nie ein Rassistenbefürworter, er sprach maximal von Menschenrasse oder die Rasse Mensch. Hier muss man schon etwas unterscheiden, zum einen die Kritik an eine Religion und die Menschen dahinter, die sich zu einer Religion bekennen.

      Auch ist Crowley nicht Thelema, was er sagt hat genau soviel Substanz für Thelema, als wenn es ein anderer Thelemit etwas anderes sagt. Er ist nmicht das Maßstab eines Thelemiten, er ist ein Hinweis. Warum? Crowley hatte immer wieder in seinen Schriften darauf hingewiesen, dass dies was er schreibt, seine Interpretation, seine Welt ist und nicht die eines anderen. Siehe dazu zB. das Liber V vel Reguli: „Ich bin das Eine, denn alles, was ich bin, ist nicht das absolute All, und mein gesamtes All ist meines und nicht das eines anderen; es ist meines, der ich die anderen als mir im Wesenskern und in der Wahrheit gleich auffasse und doch ungleich im Ausdruck und in der Illusion. “ oder im Buch Thot Seite 28: „denn jeder von uns hat sein eigenes Universum für sich selbst und ist nicht das gleiche Universum von irgendeinem anderen.“ Ebenso in vielen anderen Schriften und Bücher wie das Liber 777 oder Mackig Band 1 und natürlich das Liber Legis selbst. Wenn du Sozialdarwinismus raus liest ist das dein Problem und nicht die eines anderen. Es ist deine Wahrheit und dein Recht so zu denken oder so zu handeln, wie du es willst. Aber es ist ungültig, wenn du deine Interpretation generalisierst und meinst, dass alle das auch so sehen müssen oder andere unterstellst, dass sie das auch so sehen (was du aber so nicht formuliert hast). Denn es gibt nur ein „Tu was du willst“ und jeder hat das Recht zu sein was, wie und wohin er will, ohne dem anderen aber das Recht abzusprechen, dass er auch so sein muss wie der andere. Das ist Zwang (wenn der andere dem nicht zustimmt), menschverachtend und schlicht böse. 🙂

    2. Er konnte nicht wirklich aus der Hurenhaut, des Kindes seiner Zeit obwohl er sich bemühte. Im Kern jedoch, mal abgesehen davon, dass sich die Interpretation verschiebt, wenn aus einer anderen Perspektive (z.B. eine Alchemistische); entlarvt er die implizite Verlogenheit jener im Kontext zutreffenden Sklavenmoral. Hierbei kann sich der Einfluss Nietzsches nicht verbergen. 😉

  3. Die Probleme kleingeistiger Perzeptionen entstehen aus den selbstsüchtigen Kontrollmechanismen einer vermeintlichen Elite über eine ihrer Ansicht nach zu höherem Denken unfähige Majorität. Dabei spielt es keine Rolle, ob ihre Ausgangsüberzeugung eine politische, religiöse oder wirtschaftliche ist, es ist in jeder Hinsicht eine materialistische. Was ihnen nicht schmeckt, ihnen widerstrebt und ihre Agenda verhagelt, sind Menschen mit einem Freiheitsbegriff, der sich nicht kontrollieren lässt, weil er den Ursprung repräsentiert. Das Äon des Horus, wie es im AL angelegt ist, darf nicht verstanden werden als eine kausale Zeitepoche, sondern als ein Bewusstseinsźustand einer erwachenden Masse von Individuen, die sich gelöst haben von den Fesseln althergebrachter zivilisatorischer Sklavensysteme.

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